| Der grundsätzlich gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis ist entkräftet,
wenn das vorausfahrende Fahrzeug im unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang
mit dem Unfall einen bereits zur Hälfte vollzogenen Fahrstreifenwechsel unvermittelt
abbricht, wieder vor dem auffahrenden Fahrzeug einschert und dort sein Fahrzeug zum Stillstand
abbremst. In dieser Situation ist eine Haftungsverteilung von 50% zu 50% gerechtfertigt,
entschied das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main. |
Auffahrunfall auf der Autobahn
Der Fahrer eines bei der Klägerin versicherten Ford Ranger befuhr im Sommer 2021 zunächst
den linken von drei Fahrspuren der BAB 45. Aufgrund einer Baustelle verengte sich die Fahrbahn
auf zwei Fahrspuren. Der Fahrer begann, auf den mittleren Streifen zu wechseln. Wegen
des dortigen Verkehrsaufkommens fuhr er, nachdem er ca. zur Hälfte auf der mittleren Fahrspur
angelangt war, ebenso wie das vorausfahrende Fahrzeug, wieder auf die linke Spur. Auf der
linken Spur bremste das vorausfahrende Fahrzeug bis zum Stillstand ab. Der Fahrer des Ford
bremste ebenfalls für max. 1 Sekunde bis zum Stillstand ab. Der hinter dem Ford auf der linken
Spur befindliche Beklagte kollidierte mit dem klägerischen Fahrzeug. Der Schaden am klägerischen
Schaden beläuft sich auf knapp 60.000 Euro.
So verteilt das Oberlandesgericht die Haftung
Das Landgericht (LG) hatte der Klage auf Basis einer Haftung von 80% stattgegeben. Die hiergegen
eingelegte Berufung führte zu einer Haftungsquote des Beklagten von 50%.
Der grundsätzlich gegen den Auffahrenden geltende Anscheinsbeweis greife vorliegend nicht
ein, begründete das OLG die Entscheidung. Sowohl die unklare Verkehrslage als auch der atypische
Geschehensablauf stünden dem Anscheinsbeweis entgegen.
Zudem spreche gegen den Anscheinsbeweis, dass der Fahrer des klägerischen Fahrzeugs im
unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Unfall einen bereits zur
Hälfte vollzogenen Fahrstreifenwechsel unvermittelt abgebrochen habe. Der Fahrer des Ford
habe selbst bekundet, das Beklagtenfahrzeug auf der linken Spur nicht gesehen zu haben. Dies
spreche dagegen, dass er sich vor dem von der Klägerin als „Schlenker“ bezeichneten Manöver
durch Rückschau über den rückwärtigen Verkehr auf der linken Spur versichert habe. Weder
vorgetragen noch ersichtlich sei zudem, dass der Fahrer des Ford vor dem Einscheren auf die
linke Spur geblinkt und so für den nachfolgenden Verkehr den Abbruch des zunächst begonnenen
Fahrstreifenwechsels angezeigt habe. „Der zeitliche und örtliche Zusammenhang mit dem
gescheiterten Fahrspurwechsel liegt ersichtlich noch vor und wurde durch den kurzzeitigen
Stillstand des Fahrzeugs von einer halben bis maximal einer Sekunde nicht aufgehoben“, führte
das OLG weiter aus.
Hälftige Haftungsverteilung
Gegen ein alleiniges Verschulden des Fahrers des Fords spreche allerdings die unklare Verkehrslage
im Hinblick auf das Enden der vom Beklagten benutzten Fahrspur sowie das starke
Verkehrsaufkommen. Bei Letzterem sei auch „mit dem abrupten Abbremsen vorausfahrender
oder die Spur wechselnder Fahrzeuge jederzeit zu rechnen“ gewesen, erläuterte das OLG die
vorgenommene Haftungsverteilung von 50% zu 50%.